Der Entschluss, 1978, Gouache, Kreide und Aquarell auf cremefarbenem Papier, 72,3 x 50,9 cm

Der Entschluss, 1978

Mit diesem Blatt startete die Künstlerin ab Ende der Siebzigerjahre eine neue Folge von Arbeiten, in denen sie sich mit der psychischen Situation von jungen Menschen in Grenzsituationen beschäftigt: Die Blätter tragen Titel wie Verzweiflung, Zerwürfnis oder Emanzipation.

Im Zentrum des Aquarells ist ein Mann zu sehen, der seine Hände abwehrend vor seinen Kopf gehoben hat. Während ihm eine weitere Hand bedrohlich an die Kehle fasst, greift ihn eine andere Hand am Schopf und zieht ihn hoch. Massiv wirkt ein plastisch bis an den unteren Bildrand ausschwingender Arm mit einem deutlich gegen die Betrachter gewendeten Ellenbogen und einer geballten Faust, die den Zugriff abzuwehren scheinen. Obwohl die Person an ihren Händen von einem Eisenkettennetz gefesselt ist, wirkt ihr Gesichtsausdruck entspannt.

Die gleichsam selbstständig agierenden Gliedmaßen setzen sich zu einem traumartigen, unheimlichen Stückwerk zusammen. Sie deuten an, dass der zentral Dargestellte im Begriff ist, von einem irdischen in einen jenseitigen Zustand überzugehen. Seine Augen sind geschlossen, der Mund entspannt; es bleibt offen, ob er träumt, schläft oder bereits in den Tod eingetreten ist. Ihm kann die körperliche und psychische Bedrohung nichts mehr anhaben. Als Widerschein seines Selbst wirken ein nackter, glatzköpfiger Mann (ein Todesbote?) und das bewegte Astwerk eines kahlen Baumes, durch dessen Stamm ein gerader, roter Riss geht. Das Baummotiv wird die Künstlerin immer wieder als Symbol der menschlichen Psyche einsetzen, doch könnte es in Verbindung mit der Eisenkette, die links herunterhängt, eine konkrete Bedeutung für das Ableben besitzen.

Vorstudie zu: Der Entschluss (Ausweg?), 1978, Kohle, Kreide und Aquarell auf cremefarbenem Ingrespapier, 51,7 x 42,2 cm

Mit der Bildkomposition aus unterschiedlichen Blickwinkeln und der gespenstischen, blutroten bis bräunlichen Farbgebung verdeutlicht die Künstlerin, dass die Szene eine imaginäre Welt darstellt, in der Wirklichkeit und Traum verwoben und Zeit und Raum außer Kraft gesetzt sind. Den Aufbau der Komposition hat sie in verschiedenen Studien genau vorbereitet. Zentral ist ein Raster, dessen Mitte der Kopf einnimmt, von dem pyramidal angeordnete Hände und Gliedmaßen ausstrahlen. Die isolierten Hände rückte sie erst in der finalen Fassung dicht an den Kopf heran. Hier fallen auch die zuerst in Schwarz, dann in Rot hervorgehobenen Innenflächen seiner Hände auf, die an die Wundmale Christi erinnern. Eine Vorstudie hat den Titel Ausweg? erhalten. Der finale Titel verlegt die Bestimmung des Schicksals wortwörtlich in die Hände des Individuums.

Hintergrund des Aquarells ist der Freitod eines jungen Mannes innerhalb der Familie der Künstlerin. Ruth Baumgarte entwirft mit diesem Blatt eine eigenwillige Interpretation eines Motivs, das mit den Selbstmorddarstellungen von Albrecht Altdorfer, Lucas Cranach (d. Ä.) und Joseph Anton Koch bis Edouard Manet und Gerhard Richter eine langjährige Bildtradition in der Kunst besitzt. Diese Interpretation führt die Grenzen des Darstellbaren mit sehr realistischen Mitteln vor Augen.