Seit Jahrhunderten lebten Sinti und Roma in Deutschland und Europa, oft wurden sie verfolgt und diskriminiert. Dennoch haben die Sinti und Roma die Ikonografie der europäischen Kunst und Kultur vom 15. Jahrhundert bis heute erheblich beeinflusst, wie die folgende Bildbetrachtung beispielhaft zeigt. Die Kreidezeichnung „Zigeuner im Regen“ nimmt wie auch die frühe Tuschzeichnung „Arbeiter auf dem Dach“ einen besonderen Platz in Ruth Baumgartes künstlerischem Frühwerk ein. Der brisante Inhalt des Werks wurde lange übersehen. Erst die Forschungen von Historiker- und Wissenschaftlerkreisen in Berlin sowie den Forschenden der Kunststiftung Ruth Baumgarte haben die Verbindung von Ruth Baumgarte zum Schicksal der Sinti und Roma während der 1940er-Jahre in Berlin aufgedeckt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „Zigeuner“ im Bildtitel aus einem historischen Verständnis stammt, das das Leben der angeblich wilden und freien Zigeuner romantisierte. Der Begriff gilt heute als veraltet, vorbelastet und diskriminierend. Die systemkritische Aussage des künstlerischen Werks zum Thema Sinti und Roma wird damit nicht eingeschränkt.
Künstlerisches Arbeiten abseits des Akademieunterrichts
Während ihres Studiums an der Hochschule für bildende Künste in Berlin von 1941 bis 1944 lernte die junge Ruth in der Grafikklasse von Gerhard Ulrich das genaue Zeichnen von Figurenszenen und die Handlung von Theaterstücken in das Medium der Zeichnung zu übersetzen. Im Unterricht von Wilhelm Tank wird sie in das Körper- und Anatomiestudium und Bewegungsabläufe eingeführt und in seinem Unterricht angeregt, Motive außerhalb des Ateliers auf der Straße zu suchen. Zweifellos profitierte die Künstlerin in ihren Bewegungsbildern auch von ihren Erfahrungen als stetige freie Mitarbeiterin in den Berliner Zeichenfilmateliers von Wolfgang Kaskeline. Der jüdische Künstler und Regisseur, der nur mit einer Sondergenehmigung produzieren durfte, galt als deutscher Walt Disney der Animationsbranche.
Diese Zeichnung ragt aus ihrem Werk heraus, da die Kunststudentin keine spezifische erzählerische Vorlage aus einem Theaterstück oder einer Erzählung verwendete, sondern das Thema, die detaillierte zeichnerische Ausführung und die szenische Zuspitzung selbst erdachte. In einer Studie in Tuschfeder von um 1942 skizzierte sie das Thema pointiert vorab. Im Mittelpunkt der Szene sind zwei davonlaufende Musiker der Sinti und Roma mit aufgespanntem Regenschirm zu sehen, den Titel „Zigeuner im Regen“ notierte sie unter das Motiv. Während man auf dieser kleinen Skizze noch den Eindruck erhält, die beiden Männer fliehen nur aufgrund des Wetters davon, um sich selbst, das mitgeführte Violoncello und die Geige im Kasten vor einem einsetzenden Platzregen zu schützen, setzt sie die Szenerie in einer größeren und in Kreide ausgeführten Zeichnung zu weiteren entscheidenden Bildelementen in Bezug. Forschungen haben ergeben, dass Ruth Baumgarte mit diesem Motiv eine Begebenheit wiedergibt, die sie aus eigener Anschauung der Sinti und Roma reflektiert haben muss. Martin Fenner führt dazu genauer aus: „In dieser Darstellung wird deutlich, dass es nicht der Regen ist, vor dem die Musiker Schutz suchen. Obwohl die Turmuhr (am oberen Bildrand) nicht „fünf vor zwölf“ zeigt, lassen die dargestellten Gleise und Barrieren, die die Musiker überqueren müssen, und die rechts im Bild befindliche Baracke Assoziationen auf die durch die Nationalsozialisten durchgeführten Deportationen der Sinti und Roma zu. Ein fatalistisches Stillleben aus einer leeren Flasche und einem umgekippten Topf gibt die Leserichtung der gewittrig-düsteren Szenerie vor“ (Ausst.-Kat. Ruth Baumgarte. Herkunft/Prägung/Zäsuren, Kulturhaus Karlshorst, Berlin 2017, S. 18-19).
Der wirklichkeitsnah wiedergegebene (heute umgestaltete) Bahnhof Wuhlheide mit seiner charakteristischen Turmuhr in Berlin-Karlshorst, dessen Gleise heute noch bestehen, war der Durchgangsbahnhof für Deportationszüge in den Osten. Ein Polizeilager für andere Gefangene befand sich in der Nähe. Der Wohnort der Künstlerin, Karlshorst, an dem sie von 1935 bis 1945 mit ihrer Mutter lebte, lag zudem in der Nähe der Laubenkolonie Wiesengrund, die in den Dreißigerjahren und frühen Vierzigerjahren nachweislich Familien der Sinti und Roma beherbergte. Es ist zu vermuten, dass die Künstlerin dort bei ihren Fahrradfahrten durch das Viertel die Sinti und Roma in ihren Wagenburgen nicht nur beobachtete, sondern mit ihnen trotz strikter Verbote des NS-Regimes im Verborgenen Kontakt hatte. Als die Zeichnung entstand, wurden Sinti und Roma systematisch ins sogenannte „Zigeunerlager“ in Berlin-Marzahn, das sich etwa 20km nördlich von ihrem Wohnort befand, eingewiesen, deportiert und gefangen gehalten. Das Lager wurde bis zum 1. März 1943 aufgelöst und dessen Internierte Sinti und Roma ins Konzentrationslager Ausschwitz abtransportiert. Die Gedenkstätte in Berlin-Marzahn widmet sich dem Andenken der Ermordeten der Sinti und Roma und wird heute von Petra Rosenberg, Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, geleitet.
Die Zeichnung kann aufgrund des beschriebenen Kontexts nicht im Rahmen des akademischen Unterrichts an der Hochschule entstanden sein, da der Inhalt politisch zu brisant war. Nicht nur die sympathisierende Darstellung von ausgegrenzten Gruppen des Nazi-Regimes, zu denen die Sinti und Roma gehörten, war verboten; per Erlass des Reichsministeriums des Inneren war auch die fotografische oder zeichnerische Darstellung von Autobahnen, Wasserstraßen und Eisenbahnlinien untersagt. Diese bedurften der schriftlichen Genehmigung. Bei Zuwiderhandlung drohte eine Strafe von sechs Wochen Haft.
„Nicht-Orte“ und „Ausgegrenzte“ in Ruth Baumgartes Werk
Es ist auffallend, dass die 19-jährige Zeichnerin schon früh ein sensibles Gespür für Rand- und Grenzgebiete in Natur und Stadt, sogenannte „Nicht-Orte“ der industrialisierten Moderne, entwickelte. Damit reagierte die angehende Künstlerin in ihren Motiven auf den tiefgreifenden Wandel des städtischen Raums im 20. Jahrhundert. Charakteristisch für diese Nicht-Orte ist, dass sie weder Geschichte noch Identität besitzen, sondern Einsamkeit und Anonymität schaffen, so der französische Anthropologe Marc Augé. Dazu zählen in Baumgartes Werk Darstellungen von Bahnhöfen und Gleisanlagen, Holzschuppen und immer wieder Signalanlagen und Hochspannungsleitungen. Ein Schuppen, Bahngleise und ein Strommast sind in der erwähnten Zeichnung deutlich als Ausdrucksträger des abseitigen Nicht-Ortes, der zum Niemandsort der flüchtenden Sinti und Roma wurde, in der rechten Bildhälfte zu erkennen. Auch der wuchernde, wie Gedärme aussehende Pilzbewuchs am Grenzzaun, den die Fliehenden gerade passieren, weist auf den unheilvollen Ort hin.
Die weltläufige Metropole Berlin bot der angehenden Künstlerin nicht nur einen Lernort der Kunst, sondern offenbarte ihr auf den täglichen S-Bahnfahrten von Karlshorst ins Stadtzentrum zur Hochschule im Stadtteil Charlottenburg ein kontrastreiches wie unerschöpfliches Panorama der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, gewissermaßen eine „Sehschule“ der sozialen Gegenwart. Die realistische Figurendarstellung der Sinti und Roma im Werk erscheint in diesem Zusammenhang wie ein genau beobachtetes Zeitporträt der Verfolgten vor dem Genozid. Schon in ihren ersten Aktzeichnungen während ihrer Studienzeit gab die Zeichnerin keine idealisierten Körper wieder, sondern orientierte sich an der Wirklichkeit, zeigte ausgezehrte Gesichter mit eingefallenen Wangen und gekrümmte angespannte Körperhaltungen von weiblichen und männlichen Aktmodellen.
Auch außerhalb Berlins wurde sie mit politisch und rassisch Verfolgten der Nazi-Diktatur wie den Sinti und Roma konfrontiert. Bei einem Aufenthalt im Riesengebirge beobachtete sie die Zwangsdeportation jüdischer Mädchen, die sie tief erschütterte. Laut Erinnerungen ihres Sohns Alexander Baumgarte war die junge Ruth über das Tun der „Judenfänger“ orientiert. Wie sie mit der Zeit der Gräuel des Zweiten Weltkrieges umging, beschreibt der renommierte Kulturhistoriker Helmut Lethen in seinem Beitrag im Werkverzeichnis: „Aufgeben gab es für Ruth Baumgarte nicht. In dieser Atmosphäre entstand die Gewissheit für die junge Frau, dass sich die Intensität ihres Lebens nur in der Distanz von ihrem Umfeld verwirklichen würde. Nur so konnte sie traumatische Erlebnisse in der Kapsel des Schweigens bewahren“ (Bd. I, München 2022, S. 26). Für das Leiden und die innere Zerrissenheit anderer Menschen war sie fortan, wie auch ihre Tagebucheinträge um 1944/46 verdeutlichen, höchst sensibilisiert. Sie entwickelte ein Distanzgefühl zur Welt, das sie zur genauen Beobachterin ihrer Zeit werden ließ.
Ruth Baumgartes soziales Interesse an den Sinti und Roma teilte sie auch mit anderen Persönlichkeiten ihres geistig-literarischen Umfeldes. Durch ihre familiären Wurzeln war sie von der Theater- und Filmwelt fasziniert. Seit ihrer Kindheit und Jugendzeit pflegte sie enge Kontakte mit der musikalischen und literarischen Geisteswelt. Zu ihren Freundschaften zählte der spätere Komponist und Musikdirektor Heinz Struve (1925−2015), der 2013 seine Lebenserinnerungen in der Autobiografie „Im Dschungel – zwischen Nazis und Stalinisten“ herausgab. Darin erwähnt er eine Erinnerung an seine erste Begegnung mit Sinti und Roma, die „wohl als Reklame für ihren Zirkus auf Stelzen“ an seinem Haus vorbeizogen (Frankfurt/M., 2013, S. 37), ein Erlebnis, das er mit der jungen Ruth teilte, die später wiederholt davon berichtete. Auch mit dem Schriftsteller und Maler Hans Scholz (1911−1988), einer ihrer Dozenten an der Privaten Kunstschule des Westens, war sie eng vertraut. Wie atmosphärische Reminiszenzen an ihre lebenslange Freundschaft mögen die Darstellungen der Künstlerin in ihren Illustrationen in den Fünfzigerjahren anmuten, die eine szenisch vergleichbare Entsprechung mit Motiven der Verfilmung seines 1955 erschienenen Romans „Am grünen Strand der Spree“ zeigen. In Scholz‘ Roman ist auffallend, dass der Autor mehrmals auf das Leben der Künstlerin anzuspielen scheint. Darauf verweisen eine Reihe namentlicher Referenzen. Etwa die Romanfiguren „Ruth Ester Loria“ oder auch „Busse“, der Name von Ruth Baumgartes ersten Ehemannes, legen nahe, dass die beiden Künstler eng miteinander verbunden waren und auf gemeinsame Erlebnisse zurückblicken konnten. Schließlich, so betonte Scholz in einem Interview, habe er sich in seinem Buch nichts ausgedacht und alles selbst erlebt (siehe auch Werkverzeichnis Ruth Baumgarte, Bd. III, S. 118). In der Serie des 1960 verfilmten Bestsellers wird erstmals ein Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in der von den Deutschen besetzten Sowjetunion gezeigt. Die Ausstrahlung wurde von Forschern als „Bruch des kollektiven Schweigens“ eingestuft. Hans Scholz war 1963−1976 neben Heinz Ohff Chef des Feuilletons des Berliner „Tagesspiegel“ und von 1963−1988 Mitglied der Berliner Akademie der Künste.
Über ihre Verbindung zu den Familien der Sinti und Roma ist von der Künstlerin selbst wenig überliefert. Aus der dargestellten, nachhaltigen Begegnung mit den Musikern, aber auch mit Sicherheit aus Gründen einer noch jugendlich-verklärten Sicht auf diese als Sinnbild freiheitlicher Lebensform der Sinti und Roma, sollte sich Ruth Baumgarte mit Angehörigen der Sinti und Roma und anderen Menschen, die nicht zur bürgerlich lebenden Gesellschaft gehörten, zeitlebens solidarisieren.
Erinnerung an Ruth Baumgarte und ihr Werk zu den Sinti und Roma
Die Künstlerin Ruth Baumgarte wurde an ihrem früheren Wohnort, der Rheingoldstraße 32 in Berlin-Karlshorst, für ihre systemkritische künstlerische Verarbeitung der rassisch, religiös und politisch motivierten Verbrechen während des Nationalsozialismus, zu denen die Verfolgung der Sinti und Roma gehörten, mit einer Gedenkstele geehrt. Diese wurde im Jahr 2020 an dem Ort errichtet, an dem Ruth Baumgarte zusammen mit ihrer Mutter während ihrer Ausbildungs- und Studienzeit an der Hochschule für bildende Künste von 1938 bis 1945 bis zum Einmarsch der Sowjettruppen und der letzten Kämpfe in der Rheingoldstraße 32 lebte.
Eine künstlerisch getreue, 1:1 große Kopie der Darstellung der Sinti und Roma „Zigeuner im Regen“ befindet sich seit 2021 in der Dauerausstellung des Museum Lichtenberg in Berlin-Lichtenberg.