Selbstportrait, um 1940
Die großformatige Kreidezeichnung stellt das früheste erhaltene Selbstporträt von Ruth Baumgarte dar. Mit wenigen Strichen erfasst die junge Zeichnerin die Eigenheiten und Proportionen ihres Gesichts. Sie variiert ihre Strichführung zwischen breiten Schraffuren und schmalen, schwarz gesetzten Markierungen, um wesentliche Partien des Gesichts, ihren charakteristischen Pony, die Augenpartie sowie Hals- und Kinnlinie hervorzuheben. Der bräunliche Untergrund des Papiers drängt durch ausgesparte Stellen nach vorne und verleiht ihrem Antlitz ein sanftes Inkarnat. Ein Tuchband hält ihr Haar zurück, das auf ihre schmal wiedergegebenen Schultern fällt, der Kragen ihrer Bluse blitzt aus dem Pullover hervor, während der Raum mit wenigen Linien angedeutet ist.
Mit leicht gedrehtem Kopf, dem sachte geöffneten Mund und dem schwarz hervorgehobenen Auge blickt sie ihr Gegenüber zielsicher an. Alle ihre Sinne, so die Botschaft des Porträts, sind der Welt offen und zugleich mit verhaltener Energie zugewandt. Die Spuren der Entstehung lässt die Künstlerin durch wenige ausradierte Passagen sichtbar stehen. Es bleibt unklar, ob die Arbeit vollendet oder unvollendet ist.
Das genaue Entstehungsdatum der Zeichnung ist nicht überliefert. Doch spricht die Sicherheit im Setzen der anatomisch richtigen Gesichtsproportionen und die differenzierte Linienführung dafür, dass Ruth Baumgarte bereits Zeichenunterricht erhalten hatte. Ihre Mutter sorgte dafür, dass sie mit 15 Jahren auf die Private Kunstschule des Westens von Emmy Stalmann in der Berliner Kantstraße ging; von dort wechselte sie 1941 zur Staatlichen Akademie der bildenden Künste. Das Zeichnen wird fortan zum wichtigsten Medium ihrer künstlerischen Karriere und das genaue Beobachten, welches sich in der Hervorhebung der Augenpartie zeigt, zu einem der wichtigsten Wege der Vergewisserung ihrer selbst und des Umfeldes werden.