Relikte (Relikte I), 1987, Aquarell auf Papier, 74,8 x 55,3 cm

Relikte (Relikte I), 1987

Dieses eindrückliche Aquarell wirkt wie eine dunkle Dystopie der westlichen Welt.

Eine dramatische Szene entfaltet sich vor unseren Augen: Zwei Figuren, ein Mann und eine Frau, versinken in einem Umfeld, aus dem sie sich zu befreien suchen. Die männliche Gestalt streckt schmerzverzerrt eine verkrampfte Hand über die Wasserlinie und hält sich mit der anderen an einem langen Tuch fest. Unmittelbar neben ihm breitet die weibliche Gestalt ihre Arme weit aus und scheint sich dem Unweigerlichen hinzugeben. Ihr Mund steht offen, die Augen blicken starr nach oben. Wovor sind sie geflüchtet? Was bereitet ihnen Schmerzen?

Das Paar ist offensichtlich in einem Transformationsprozess begriffen. Sie erscheinen nicht mehr menschlich, sondern vielmehr wie Fremdlinge in ihrer Haut. In ihren muskulösen Körpern schimmern die Rippen durch und lösen sich im unteren Bildbereich auf. Die Stoffbänder umfassen die Körper wie fesselnde Schlingpflanzen und erinnern dabei an Totentücher, in die Leichname gewickelt werden. Die charakteristische Körperhaltung des Mannes erinnert an die zentrale Figur der berühmten Laokoongruppe, in der sich Laokoon von umwindenden Schlangen zu befreien sucht. Sein schreiender Kopf ist in der Kunstgeschichte weit bekannt, da in dieser antiken Marmorgruppe erstmals der Moment des »gesteigerten Augenblicks« dargestellt wurde. Ruth Baumgarte kontrastiert diesen einzigartigen Moment mit einem zeitlosen Moment der passiven weiblichen Figur, die in der Haltung des toten Christus von mittelalterlichen Pietàgruppen verharrt. So vereinen sich diverse Zeitebenen in diesem Werk und verstärken den Eindruck, dass das Motiv eine Vision darstellt.

Reine Farben, die sonst die Farbgebung ihrer Arbeiten bestimmen, sind in diesem Werk völlig zurückgetreten. Es dominiert ein Spektrum von Sekundärfarben: Grün, Orange und Violett geben dem Motiv eine unangenehme, toxische Wirkung. Sie unterstreichen nachdrücklich den transitorischen Zustand der Dargestellten von einem lebenden in einen toten Zustand.

Ein Hinweis gibt eventuell am oberen Bildrand, entrückt vom Wasser, ein alter Ölkanister. Er liegt in einem gelb-orangefarbenen Raum, der zu brennen scheint. So spielt dieses Werk symbolisch überhöht sowohl auf die 1986 herrschende Ölpreiskrise als auch auf den Brand einer Lagerhalle der Chemiefabrik Sandoz in Basel an, wobei mit Pflanzenschutzmitteln verseuchtes Wasser in den Rhein gelangte und eine Umweltkatastrophe ausgelöst wurde.