Folge Einäugiger David (Wohin), 1983, Sepia auf Papier, 74,3 x 55,5 cm

Einäugiger David (Wohin), 1983

Weckruf an die Gesellschaft: Die Hand als Ausdrucksform sozialer Verhältnisse, 2. Teil

In den Siebziger- und Achtzigerjahren greift Ruth Baumgarte das Handmotiv in ihrem Werk wiederholt auf, um gesellschaftspolitische Fragestellungen einprägsam ins Bild zu setzen (siehe Instagram Post vom 12. Oktober 2024).

1983 arbeitete die Künstlerin an einer Reihe monochromer Sepiazeichnungen, die die ewige Suche des jüdischen Volkes nach Heimat mit der zeitgenössischen Debatte von Verdrängung und Ohnmacht am Völkermord der Juden aus ihrer Perspektive 38 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges reflektiert. Auch in Folge der in Deutschland ausgelösten Debatte durch die 1979 im deutschen Fernsehen ausgestrahlte Serie „Holocaust“ vermischt die Künstlerin erneut ihr eigenes Wissen und Erahnen aus der damaligen Zeit mit den Erkenntnissen der Gegenwart. Der Titel Einäugiger David bezieht sich auf ein Gedicht des Autoren Werner Völker, der die Heimatlosigkeit des jüdischen Volkes umschreibt und im Ausruf gipfelt: „ … wann denn / Ahasver / ruhst auch / Du?“ Anfang der Achtziger Jahre verstärkten sich auch wieder die großen politischen Spannungen zwischen den Israelis und Palästinensern, was die Künstlerin mit und über der Zeit symbolisch umreißt.

Die Komposition des fast 80 cm großen Blattes besticht auf den ersten Blick: Nah an den vorderen Bildrand gerückt beherrscht die Protesthaltung einer Frau mit Kopftuch das Bildzentrum. Helle Lichtinseln heben ihre Gebärde, insbesondere ihre Hand, wirkungsvoll hervor. Gleichzeitig verschränkt die Zeichnerin die Figur mit der kargen, nur schwach besiedelten Landschaft, indem sie die Sepiatusche in transparenten Schichten virtuos übereinanderlegt. Diesmal ist der Künstlerin die expressive Gestik nicht genug und fügt der Bild- noch eine Textebene hinzu: Im Ruf „Wohin“ materialisiert sich ein geklebter Schriftzug direkt über dem Kopf der Frau. Die vielstimmige Protestgebärde steht symbolisch für die Existenznöte zahlreicher Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus ihrem Land flüchten.

Ruth Baumgarte erlebte in ihrem persönlichen Umfeld die politische und rassische Verfolgung und die daraus resultierenden Repressalien während der NS-Zeit. Ihre Wahrnehmung wurde so auch für die in Berlin-Karlshorst um 1942 ansässigen Sinti und Roma Familien geschärft, die sie entgegen der politischen Direktiven auch in ihren Werken auf der Flucht vor dem Genozid ins Bild setzte.

Die Themen Vertreibung, Flucht und Migration werden Ruth Baumgarte auch in ihrem umfassenden Afrika-Zyklus bis an ihr Lebensende intensiv beschäftigen.

Handstudie, um 1983, Bleistift auf Papier, 16 x 12 cm