Der Morgen (Gang zur Arbeit), 1958, Aquarell, Tusche, Bleistift, 28,5 x 34 cm

Der Morgen (Gang zur Arbeit), 1958

Angeschnittene Figuren in Nahansicht, fluchtende Räume, Licht-Schatten-Kontraste: Mit diesen künstlerischen Mittel vermag Ruth Baumgarte elektrisierende Dynamiken im Bild zu erzeugen und zugleich das Auge der Betrachter zu fesseln.

Das vorliegende Blatt wirkt wie ein Storyboard für einen neorealistischen Film, der mit Fellini und Visconti Ende der 1940er Jahre eine neue Schaffensära einläutete. Wie die italienische Filmavantgarde spürt Ruth Baumgarte der sozialen Wirklichkeit nach und schafft diese packende Straßenszene am Morgen: Männer in dunkler Arbeitskleidung kommen uns entgegen. Ihre Gesichter erscheinen in sich zurückgezogen, müde. In extremer Nahansicht rückt ein Arbeiter mit dicker Jacke, Halstuch und Schirmmütze so nah an den Bildrand, dass man sogar das Aufglühen seiner Zigarette sieht. Den Bildraum mit der belebten Straße, Passanten und Mülltonnen auf dem Gehweg deutet die Künstlerin nur an und lässt freie Stellen des hellen Papiergrundes bewusst hervorblitzen. Die erzählerische Kraft kann sich somit nachhaltig entwickeln: Die offenen Stellen regen die Phantasie der Betrachter an, die hier nur angedeutete Geschichte über Menschen auf dem Gang zur Arbeit für sich selbst weiterzuerzählen.