African Vision

African Landscape III, 1993, Öl auf Karton, 137 x 98 cm

Ein Kontinent als Inspiration ihrer Kunst

Als Ruth Baumgarte ihre in den 1950er-Jahren begonnenen Reisen wiederaufnimmt, steht sie in der Mitte ihres Lebens. Bis ins hohe Alter reist die Künstlerin innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren über vierzig Mal in afrikanische Länder, unter anderem nach Ägypten, Simbabwe, Kenia, Tansania, Namibia und Südafrika, und verbringt dort oft mehrere Wochen. Die intensive farbige Wirkung der Natur vor Ort beeindruckt Ruth Baumgarte zutiefst und sie entwickelt nun ihren ganz eigenen expressiven Stil, der einen neuen Kolorismus in ihrem Werk einleitet. Landschaft und Menschen dieses Kontinents werden zur wichtigsten Inspiration ihrer Kunst. 

Wo immer sie sich aufhält, beobachtet sie die Menschen aufmerksam, fühlt sich empathisch ein in die jeweiligen Lebenssituationen, in den Geschlechterkampf, die Geschlechterrolle der Frau als Arbeiterin auf dem Land. Sie interessiert sich für die fremden Kulturen auf dem damals für europäische Kunstschaffende noch weitgehend unerschlossenen Kontinent. Das, was sie sieht und erlebt – eben auch die Umbruchzeiten auf dem afrikanischen Kontinent −, dokumentiert sie mit Studien vor Ort und verarbeitet die Ergebnisse in farbgesättigten Ölgemälden, virtuosen Aquarellen und Zeichnungen, sobald sie wieder in ihr Atelier in Deutschland zurückkehrt. Formal und koloristisch ist Afrika mit seinem Licht und seiner enormen Farbintensität für Ruth Baumgarte die Emanzipation ihrer Malerei aus der mitteleuropäischen Tradition und es ist nicht verwunderlich, dass ihre Faszination einen Wendepunkt in ihrer Malerei einleitet.

Zum Oeuvre

Port Elizabeth (Afrikanische Studie / Ohne Titel), 1986, Aquarell und Bleistift auf Papier, 40 x 30 cm

Politische Haltung

Ruth Baumgarte geht es in ihren Motiven nicht um die Darstellung des exotischen Zaubers und einer beschönigenden Sicht. Die Künstlerin will sich mitteilen, das Sichtbare nicht allein wiedergeben, sondern auch deuten. Ihre politische Haltung zu der brisanten Entwicklung der politischen Situation zeigt sie deutlich in Zeichnungen von 1986 bis 1988. In Port Elizabeth (1986) verarbeitet die Künstlerin die aktuellen Ereignisse der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika wie der Streik der Schwarzen Arbeiter anlässlich des 10. Jahrestags des Soweto-Aufstandes. Ab den 1990er-Jahren entstehen großformatige Gemälde. Das Licht des Südens versetzt die Künstlerin immer wieder in einen Farbrausch, seine Energie ist allgegenwärtig, doch macht sie in ihren Landschaftsbildern auch die tiefen Umbrüche dieser Zeit durch Vertreibung, Flucht und Migration sichtbar. So stellen die circa 100 Ölgemälde, Aquarelle und Zeichnungen des Afrika-Zyklus immer wieder die für die Menschen prekären existenziellen Lebensbedingungen in den afrikanischen Ländern dar. 

The Gleaners II, 1988, Kohle und Kreide auf grauem Zeichenpapier, 60 x 74 cm

Frauen als emanzipierte Individuen

Bevor Ruth Baumgarte in ihrem Afrika-Zyklus ganz zum Ölbild wechseln wird, fertigt sie in den 1980er-Jahren eine Gruppe von Kohle-, Pastellzeichnungen und Aquarellblättern an. Insbesondere die Frau als Arbeiterin auf dem Land rückt sie in den Fokus – allerdings bemerkenswerterweise ganz ohne Wertung innerhalb der Bilder. Die Frauen erscheinen als Ährenleserin, Netzknüpferin, beim Sammeln von Holz und Maiskolben, beeindruckend in einigen Werken auch in nachdenklichen Situationen. Sie werden somit nicht nur als Teil einer stark kontrollierten sozialen Gemeinschaft sichtbar, sondern auch als selbstbestimmte, emanzipierte Individuen, die einen eigenen Lebens- und Denkraum für sich beanspruchen. Diese Frauen verkörpern Ruth Baumgartes African Vision. Ihr Afrika-Zyklus zeigt, wie weit die Künstlerin ihrer Zeit voraus ist.