Soziale Wirklichkeit in der Kunst

Folge: Nichtseßhaft, 1987, Kreide und Pastellkreide auf Ingrespapier, 63 x 48,4 cm

Ausgegrenzte der Gesellschaft

Als Ruth Baumgarte in den 1980er Jahren beginnt, den afrikanischen Kontinent öfter zu bereisen, drängen sich ihr zur gleichen Zeit auch die gesellschafts- und sozialpolitischen Themen in ihrer Heimat auf. Hellsichtig und präzise gegenüber den sozialen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen ihrer Zeit, reflektiert sie die soziale Wirklichkeit in ihrer Kunst. In dieser Zeit entstehen viele Milieustudien, die das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft, Mensch und Natur darstellen.

Schon während ihres Studiums in Berlin zeichnet Ruth Baumgarte Ausgegrenzte der Gesellschaft, wie die von den Nationalsozialisten verfolgten und in Auschwitz ermordeten Sinti und Roma oder erforscht das Arbeitermilieu ihrer unmittelbaren Umgebung. Es sind erste tastende, aber auch mutige Versuche, einen eigenständigen Blick auf ihre Umwelt zu finden. 

Die aufrüttelnden Begegnungen mit Obdachlosen regen die Künstlerin 1986 an, an einer achtteiligen Folge Nichtseßhaft mit Motiven der armen Bevölkerung zu arbeiten. Die bis zu 60 Zentimeter großen Kreidezeichnungen auf geschöpftem Papier stellen ältere Männer in sozial angespannter Lage dar, die die Zeichnerin mit dem genauen Blick auf die Wirklichkeit mit nur wenigen künstlerischen Mitteln beeindruckend skizziert.

Zum Oeuvre

Folge: Kairo Backschisch (Bakschisch II), 1985, Kohle auf cremefarbenem Ingrespapier, 89,2 x 64,5 cm

Humanistin mit realistischem Blick

Zur gleichen Zeit setzt Ruth Baumgarte ihre Reisen auf den afrikanischen Kontinent fort und fertigt eine erste Serie von Kohlezeichnungen an, die die bettelarme Bevölkerung in Ägypten in ausdrucksstarken Linien einfängt. In ihrer Kunst versucht sie, für die Ängste und Sorgen der Menschen eine künstlerische Sprache zu finden, was ihr dank der ständigen Auseinandersetzung mit der Realität immer wieder aufs eindrücklichste gelingt. 

Typisch für die gegenständliche Arbeitsweise der Künstlerin ist, wie sie aus einer humanistischen Haltung heraus prekäre Gesellschaftsthemen aufgreift und diese mit spitzer Feder, breitem Grafit- oder pechschwarzem Kohlestift genau erfasst. “Bakschisch” bedeutet Geschenk bzw. Trinkgeld, das für Dienstleistungen, Gefälligkeiten und als Almosen in islamischen Ländern bereitgehalten wird. Die Künstlerin nahm es als Symbol für eine in Armut lebende Gesellschaft, die aufgrund der fehlenden Sozialsysteme auf Unterstützung durch die Allgemeinheit angewiesen ist. Dies sind prekäre Folgen der globalen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft.

Mit den mehrteiligen Folgen von Zeichnungsthemen in den Jahren 1985 bis 1987 kehrt sie zu diesem realistischen Blick auf die Ausgegrenzten der Gesellschaft in ihrer Kunst zurück.