Die Rolle der Frau im 20. Jahrhundert

Selbstbildnis, 1944, Bister, schwarze Kreide und Kreide auf cremefarbenem Karton, weiß gehöht, 48,5 x 42,5 cm

Chancengleichheit und Wirklichkeit

Die Darstellung von Frauen in der Kunst nimmt bei Ruth Baumgarte eine maßgebliche Rolle ein. Die Künstlerin beschäftigt sich in zahlreichen Arbeiten mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau im 20. Jahrhundert. Es fließen nicht nur Eindrücke aus ihrem vielseitigen und bewegten Leben als Künstlerin, Mutter von fünf Kindern in einer Patchworkfamilie und Unternehmergattin in Deutschland ein, sondern auch all ihre starken Erlebnisse und emotionalen Wahrnehmungen, die sie von den so unterschiedlichen Frauenleben auf ihren Reisen in Europa und ganz besonders auf dem afrikanischen Kontinent gewinnt. 

Schon im Jahr 1944 inszeniert sie sich in einem Selbstporträt als selbstbewusste junge Frau, die ihr Gegenüber mit geneigtem Kopf aufmerksam, eindringlich und herausfordernd ansieht. Ihr lockiges, vom Wind zerzaustes Haar korrespondiert mit dem aufgewühltem Meer und einer bedrohlichen Wolkenwand im Hintergrund. Gegen diese bewegten Elemente der Natur setzt die Dargestellte ihren entschlossenen Blick und ihre Hand, die den Reißverschlusszipper am Kragen ihrer Jacke fest umgreift. Die Künstlerin knüpfte mit diesem “Willensgriff” an einen u.a. von Hans Baldung Grien und Christoph Amberger verwendeten Gestus im Herrscher- und Ständeporträt der Renaissance Malerei des frühen 16. Jahrhunderts an. 

Doch welche Chancen haben Frauen in der Kunst? Ab 1919 können Künstlerinnen in Deutschland theoretisch an den gleichen Kunsthochschulen wie Männer studieren, sich um Stipendien bewerben, Preise gewinnen und ihre Werke in Galerien verkaufen, doch die Realität hat mit Chancengleichheit wenig zu tun. Dank des erneut erstarkenden Feminismus gelingt es ab den 1960er Jahren, die männlich dominierten Strukturen langsam aufzubrechen. 

Leben, um 1950, Tusche (Feder, Pinsel) und Aquarell auf farbig grundiertem Papier, 29,7 x 21,8 cm

Rollenbild der Frau

Schon um 1949 startet Ruth Baumgarte ihre Karriere als freischaffende Künstlerin und vielgefragte Illustratorin für Zeitungen und Buchverlage. Bei ihren Auftragsarbeiten kommt die Künstlerin in den 1950er und 1960er Jahren mit verschiedensten Aspekten und Rollenbildern der Frau in der Kunst in Berührung und veranschaulicht mit spitzer Feder Aspekte der weiblichen Innen- und Außenwelt. Ruth Baumgarte ehrt mit ihrer beeindruckenden Tusch- und Aquarellzeichnung Leben  um 1950 die zahlreichen Aufgaben einer Frau in der Moderne. Die Künstlerin bringt die diversen Rollen, die eine Frau in der Gesellschaft gleichzeitig zu erfüllen hat, auf den Punkt: verschiedenste Figuren kreisen um ein Bildzentrum, das durch eine überdimensional dargestellte junge Frau eingenommen wird. Sie hat den Arm aufgestützt und sieht nachdenklich zur Seite, während sich das Figurenkarussell um sie dreht. Die zahlreichen Szenen formieren ein „Lebensrad“, ein Rad der Fortuna, mit den mehrfachen und oft parallelen Verpflichtungen der Frau: Kranke pflegen, servieren, nähen, bügeln, den Garten bepflanzen, musizieren, tanzen, als Mutter agieren und – in dieser Zeit für Frauen nicht selbstverständlich – Auto fahren. Am unteren rechten Bildrand porträtiert sich Ruth Baumgarte selbst als Illustratorin am Schreibtisch mit Feder, Tuschefass und Papier, die für Zeitungs-, Buchverlage und Unternehmen über 2.200 Illustrationen anfertigen wird. 

 

Market Day (Rote Blume Afrika XIX), 1988, Kohle und Kreide auf blaugrauem Papier, 89,2 x 67 cm

Emanzipation und szenisch pointierte Zeichnungen

Großformatige Kohlezeichnungen von Frauendarstellungen lösen die kleinen Formate in den 1980er- und 1990er-Jahren ab. Es sind Eindrücke der armen Bevölkerung in Ägypten. In den Blättern charakterisiert die Künstlerin die Rolle der Frau und ihrer verschiedenen Aufgaben in der afrikanischen Gesellschaft, die sich meistens um das Haus und die Vorbereitung von Nahrung drehen. Mit dem Motiv der Landarbeiterinnen wandelt die Künstlerin ein bekanntes Motiv der Kunstgeschichte ab und verlegt es auf den afrikanischen Kontinent: Die Ährenleserinnen des französischen Malers Jean-François Millet. Das berühmte sozialkritische Gemälde von 1857 stellte erstmals die arme, arbeitende Landbevölkerung ohne Sentiment dar und beeinflusste damit eine ganze Künstlergeneration, unter anderem Vincent van Gogh. 

Bemerkenswert ist, wie einige Werke die Frauen auch in kontemplativen Situationen zeigen, etwa zusammengekauert oder sinnend und nachdenkend wie die Figur in On the River Bank. Ruth Baumgarte stellt die Frauen somit nicht nur als Teil einer stark kontrollierten sozialen Gemeinschaft dar, sondern auch als selbstbestimmte, emanzipierte Individuen, die einen eigenen Lebens- und Denkraum für sich beanspruchen. 

Ganz im Sinne weiblicher Emanzipation im 20. Jahrhundert würdigt Ruth Baumgarte mit diesen szenisch pointierten Zeichnungen die zahlreichen Aufgaben einer Frau im globalen Norden und im globalen Süden.