Die Koloristin

Atelierecke (abends), 1945, Aquarell und Tusche (Feder) auf cremefarbenem Ingrespapier, 45,2 x 30,7 cm

Aus einer humanistischen Haltung heraus verknüpft Ruth Baumgarte zeitlebens Gesellschaftsthemen mit der suggestiven Strahlkraft der Farbe, die zur treibenden Energie ihres Schaffens wird.

Während ihres Studiums an der Berliner Staatlichen Hochschule für bildende Künste von 1941 bis 1944 lernt sie die Aquarelltechnik über ihren Studienfreund Florian Breuer kennen, dessen Begeisterung sie für die expressionistischen, während der Nazi-Diktatur verbotenen Maler Paul Klee und August Macke teilte. Erste Arbeiten in Aquarell wie Atelierecke (abends), 1945, oder das Bildnis Didi, 1945, entstehen. Sie sind mit hellen, kräftigen Farben dargestellt, die auf den drei Grundfarben der modernistischen Malerei, Rot, Gelb und Blau, beruhen. 

Auch in ihrem Industrie-Zyklus, der zwischen 1952 und 1969 entsteht, verwendet sie keine Lokalfarben mehr, sondern richtet die Farbgebung der Bildgegenstände nach einer inneren Bildlogik aus, die einzelne Arbeiten, so der Berliner Kunsthistoriker Eckhart J. Gillen, in künstlerische Nähe zur zeitgleichen Kunstströmung der Pop Art in den 1960er Jahren rücken.

Relikte (Relikte I), 1987, Aquarell auf Papier, 74,8 x 55,3 cm

Ruth Baumgartes Sujets korrespondieren mit einer jeweilig abgestimmten expressiven Farbgebung. In den 1980er Jahren, setze sie diese beispielsweise ein, um die Betrachtenden zum Sehen zu verführen und sie gleichzeitig mit den dargestellten unbequemen Gesellschaftsthemen zu konfrontieren. 

Reine Farben, die sonst die Farbgebung ihrer Arbeiten bestimmen, sind z. B. im Werk Relikte von 1987 völlig zurückgetreten. Es dominiert ein Spektrum von Sekundärfarben: Grün, Orange und Violett, die dem Motiv eine unangenehme, toxische Wirkung geben. Sie unterstreichen nachdrücklich den transitorischen Zustand der Dargestellten von einem lebenden in einen toten Zustand. Das Werk spielt symbolisch überhöht auf die 1986 herrschende Ölpreiskrise und die durch Chemiefabriken ausgelöste Umweltverschmutzung an, die durch verseuchte Abwässer verursacht wurden. Über die wässrige Aquarellfarbe setzt die Koloristin einen zusätzlichen Bezug zum Thema.

Sie schuf sich einen ästhetischen Farbraum, der ihr den nötigen Abstand ermöglichte, die eigene Lebensposition klarer zu bestimmen.

Misunderstanding (The Misunderstanding / Das Mißverständnis), 1993, Öl auf Karton, 137 x 98 cm

Doch erst ihre Afrika-Reisen ab 1980 und die Rückkehr zur Ölmalerei werden Ruth Baumgarte zu neuen Interpretationen führen. Das Licht des Südens und die intensive farbige Wirkung der Natur vor Ort beeindrucken die Malerin zutiefst und sie entwickelt ihren ganz eigenen expressiven Stil, der einen neuen Kolorismus in ihrem Werk einleitet. 

„Ruth Baumgarte brachte mit ihrem explosiven Spätwerk das gleißende Licht Afrikas nicht nur nach Europa, sondern auch in die USA, das tief empfundene Licht des Südens war so zuvor noch nicht dargestellt worden. Mit der einzigartigen Intensität ihrer Gemälde reiht sie sich in die Genealogie der großen Koloristen des 20. Jahrhunderts ein“, bemerkt Klaus Albrecht Schröder, Generaldirektor der Albertina Wien. 

ALBERTINA, Wien, Ausstellung "Africa Visions of Light and Color"