Arbeitswelt in der Kunst

Ölbohrung (Industrialisierung I), 1964, Aquarell und Bleistift auf elfenbeinfarbenem Aquarellpapier, 30,8 x 22,8 cm

Gegen das traditionelle Rollenbild

Ruth Baumgarte ist die einzige Künstlerin in der Nachkriegszeit, die sich über fast 20 Jahre lang kontinuierlich mit der Eisenindustrie in Westdeutschland auseinandersetzt. Ihr künstlerisches Interesse an der Arbeitswelt wird bereits während ihres Kunststudiums sichtbar. Doch in den 1950er Jahren erhält es entscheidende Impulse. Die alleinerziehende Mutter eines Sohnes heiratet 1952 in zweiter Ehe den Bielefelder Unternehmer Hans Baumgarte und bekommt mit ihm zwei Kinder. Zu der Patchwork-Familie gehören ebenso die beiden Söhne aus der ersten Ehe ihres Mannes. Als emanzipierte Künstlerin ist es für Ruth Baumgarte in der damals konservativen Zeit nicht einfach, sich gegen das traditionelle Rollenbild als Mutter und Unternehmergattin zu behaupten. Doch sie lernt nun die für sie inspirierende und bis dahin ebenso völlig neue Welt der Industrieproduktion im Eisenwerk ihres Mannes kennen. 

Kunst in Zeiten des Wirtschaftswunders

Im Eisenwerk Baumgarte findet sie in der Zeit des so genannten Wirtschaftswunders eine Fülle an Anregungen für die Motive ihres Industrie-Zyklus. Für den im Eisenwerk Baumgarte jährlich erscheinenden Kalender schlägt sie ihrem Mann Motive aus dem Innenleben des Werks vor und zeigt Orte, wohin in dieser Zeit kein Künstler und schon gar keine Künstlerin in Westdeutschland einen Fuß gesetzt hat: die Montagehallen mit den Werkbänken. Genaue Beobachtungsgabe und ihr künstlerisches Talent sind die Basis für die Darstellung ihrer Umwelt. 

In ihren Zeichnungen wählt sie ihre Modelle frei aus und zeichnet sie „direkt nach dem Leben“ (sur le motif). Es entstehen naturnahe Szenen der schweren körperlichen Arbeit in den Maschinenhallen und Abfertigungsstätten, mit denen die Künstlerin einen bedeutenden Beitrag zur Illustration im 20. Jahrhundert und zum Motiv Arbeit in der Kunst leistet und „eine absolute Sonderstellung in der Kunst Westdeutschlands einnimmt“ (Eckhart J. Gillen).

Zum Oeuvre

Schiffsverladung (Industrialisierung II), 1964, Aquarell, Gouache und Bleistift auf elfenbeinfarbenem Papier, 30,5 x 21,2 cm

Industrialisierung als Motiv der Kunst

Ruth Baumgarte kommen dabei ihre reichen Erfahrungen durch verschiedenste Auftragsarbeiten mit Illustrationen für Zeitschriften und Buchverlage zugute, aber auch ihr sicheres Gespür für Farbe überzeugt. Eindrucksvoll und mit expressiver Farbigkeit setzt Ruth Baumgarte immer wieder die Leuchtkraft der Gouache- und Aquarellfarbe ein, welche die Figuren vor intensiven roten, blauen oder orangefarbenen Hintergründen strahlen lässt. Die Künstlerin verwendet keine Lokalfarben, sondern die Farbgebung der Bildgegenstände richtet sich nach einer inneren, expressiv aufgeladenen Bildlogik.

Einerseits stellt sie in ihren Motiven den technischen Fortschritt und die industrielle Entwicklung eindrucksvoll und durchaus positiv dar, andererseits wird die ungeheure Arbeitsbelastung deutlich. Ruth Baumgarte beweist auch hier ein feines Gespür für die negativen Folgen der ungehemmten Industrialisierung und wird durch ihre Kunst zur kritischen Beobachterin der fortschreitenden Umweltzerstörung schon in den 60er-Jahren. Die Künstlerin nimmt somit eine wichtige Rolle in der Kunst in Umbruchzeiten ein.

Im Mittelpunkt stehen immer, wie auch sonst in ihrem Œuvre, die Menschen und ihre Tätigkeiten, die Produzenten der Kessel und Gießereiprodukte. 

In ihrer Kalenderblattserie von 1964 deutet sie die zerstörerischen Auswirkungen der modernen Industrialisierung bereits an, hebt die Bedeutung der Arbeitswelt in ihrer Kunst hervor und bezieht sich motivisch durch die Darstellung von People of Color auf den afrikanischen Kontinent, dem das große Interesse der Künstlerin schon seit Ende der 1950er-Jahre gilt.

Der Industrie-Zyklus − ein eindrückliches Beispiel von Kunst im Maschinenzeitalter − ist Teil ihres illustratorischen Werks, das über 2.200 Aquarelle und Handzeichnungen umfasst.

Ausstellung "Farbrausch am Kessel"